#durchgeblättert (1): Die Rezeption von Pokémon vor dem Release in deutschen Spielezeitschriften

Im Februar 1996 veröffentlichte Nintendo in Japan ein RPG, das davon handelte, Monster zu trainieren und entwickeln sowie zu sammeln und zu tauschen: Pocket Monsters, besser bekannt als Pokémon. Ohne große Ambitionen gestartet, brach die Reihe schnell Rekorde und trieb die Umsätze Nintendos nach oben. Im Herbst 1998 eroberten Pikachu und Co. dann Nordamerika. Erst im Oktober 1999 kamen die GameBoy-Spiele in Deutschland auf den Markt. Dreieinhalb Jahre nach japanischem Release!

Was Videospieler vor dem deutschen Release über Pokémon wissen konnten, war in erheblichem Maße abhängig von der Berichterstattung der Videospielzeitschriften. Wie nahm die Spielepresse Pokémon also in diesen dreieinhalb Jahren wahr? Wann berichteten deutsche Videospielmagazine überhaupt erstmals über das Phänomen? Wie bewerteten sie den Hype? Blättern wir ein wenig, um Antworten zu finden.

Dabei soll der Artikel keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Hauptsächlich liegen der Betrachtung folgende Magazine zu Grunde: Total!, N-Zone, Video Games, Man!ac, Fun Generation und Mega Fun. Dazu ist der Artikel noch optimistisch mit einem “durchgeblättert (1)” versehen. Mal schauen, ob dieses Format noch eine Fortsetzung zu anderen Themen findet. Jetzt ist der zweite Teil online, der sich mit dem Hickhack um den Deutschland-Release und einer Postkarten-Aktion befasst: Vorhang auf zu Teil 2 zu Pokémon Snap (N64)! An dieser Stelle aber wieder zurück zur Wahrnehmung von Pokémon vor dem Release.

Inhaltsverzeichnis

Der Türöffner in die Welt der Pokémon für den Westen: Die Nintendo Space World 1997

Lange Zeit blieben die in Fernost durchstartenden Pokémon den westlichen Augen verborgen. Erst eine Messe sollte das ändern.

Fun Generation (01/1998)

Im November 1997 fand in Japan die Nintendo Space World (ehemals Shoshinkai) statt, die anders als die E3 den Schwerpunkt auf den japanischen Markt legte. In Nintendos Mutterland war die Lage für den Konzern zu der Zeit alles andere als zufriedenstellend. Dort blieb das N64 deutlich hinter den Erwartungen und verkaufte sich nicht nur schlechter als die Sony PlayStation, sondern sogar schlechter als der Sega Saturn. Ein Grund war der spärliche Software-Nachschub; eine Konsequenz aus der Pro-Modul-Entscheidung beim N64.

Deshalb suchte Nintendo händeringend eine Möglichkeit, das Ruder herumzureißen. Es war naheliegend, die in Japan unwahrscheinlich populären Pocket Monsters auf das N64 zu bringen. In diesem Zusammenhang kamen deutsche Redakteure erstmals mit dem Phänomen in Kontakt.

“Für deutsche Spieler schwer zu glauben, doch die brillianten N64-Modulspiele der Messe waren [Nintendos Präsident Hiroshi] Yamauchi in seiner Rede kein Wort wert – für den Firmenpatriarchen sind Pokemon-Rollenspiele die Zukunft der Spiele-Software.” (Man!ac, 01/98) Fast die Hälfte der Messe nahm der durch Pocket Monsters wiederbelebte GameBoy ein. So stellte Big N auch die GameBoy-Kamera erstmals vor. “Die Pocket Camera war DIE Überraschung der Space World ’97.” (Mega Fun 02/1998)

“Wer hätte das für möglich gehalten? Rund neun Jahre nach seinem weltweiten Triumpfzug ist der Game Boy in Japan wieder ganz oben auf der Beliebtheitsskala, weit vor dem Nintendo 64. Hauptgrund sind die zwei berühmten Wörter, die man auf der Messe immer wieder hörte: Pocket Monsters. Egal ob in der U-Bahn oder auf der Straße, überall stehen Kinder mit dem Game Boy herum, um ihr aufgepäppeltes Monster in den Kampf zu schicken oder sich mit anderen Kids auszutauschen.” (Mega Fun, 02/1998).

Ein wenig anders sah die Situation in Deutschland aus. Das Nintendo 64, hierzulande ungefähr neun Monate auf dem Markt, verkaufte sich zu diesem Zeitpunkt gut. Alle Augen richteten sich seit Langem auf den Zweikampf zwischen Sony und Nintendo. Das Schicksal des in Ehren ergrauten GameBoys schien längst besiegelt. Kaum eine Videospielzeitschrift widmete dem Handheld zu dieser Zeit noch nennenswerten Raum für News und Tests. In Europa war der GameBoy so gut wie tot. Für unseren Kontinent, der Polygone und 3D-Effekte sehen wollte, war das neuerliche Interesse an den vier Grautönen verblüffend.

“[N]ur, wenn man das unwiderstehliche Spielprinzip der Taschenmonster durchschaut, versteht man die zahlreichen anderen Nintendo-Innovationen der Space World 97” (Man!ac 02/1998)

Die Messe hielt also durchaus Überraschungen bereit. Nintendo präsentierte das “64GB Pak”, später Transfer Pak genannt. Es erlaubte den Austausch von Daten zwischen dem GameBoy und dem N64, zwei unterschiedlichen Videospielsystemen. Mit dieser damals aufsehenerregenden Innovation plante Nintendo nicht nur virtuelle Pokémon, sondern gleich den ganzen Rummel um die Reihe vom Handheld auf die schwächelnde Heimkonsole übertragen zu können.

Pikachu Genki Dechu
Vor der offiziellen Transkribtion gab es fast jede erdenkliche Schreibweise von Pikachu in den Heften zu finden: Pikatchu, Picachu, Pickachu…Gerne auch verschiedene Schreibweisen in einem Artikel (Video Games 01/1998).

Dennoch lag der Fokus des deutschen Spielejournalismus auf den neu angekündigten Titeln für die Heimkonsole. In obiger Abbildung zu sehen: Snap (o.l.), Stadium (o.r.) und seine Disk sowie Pikachu Genki Denchu. Die Game-Boy-Spiele fanden meist nur Raum in Infoboxen als Erklärung des Phänomens, es dominierten Screenshots der Pokémon im 64-Bit-Gewand.

Pokemon Gameboy 1999 altes Magazin Videospiele
Eine Infobox über die GB-Editionen und die Welt der Pokémon (Man!ac, 02/1998). Im letzten Satz ist zu lesen, dass ein weiteres Pokémon erstmals an Messe-Besucher verschenkt wurde: die Geburt von Mew als #151. Event-Pokémon gibt es bis heute.

Pikachu Genki Dechu sollte als einziges auf Modul erscheinen. Die anderen beiden, Snap und Stadium, waren für die Erweiterung N64DD geplant. Das N64DD war in Japan auf den Juni 1998 verschoben worden. Zur Fotosafari mit den Taschenmonstern resümierte die Mega Fun (02/98): “Mit […] Pocket Monster Snap konnte man als Nicht-Japaner herzlich wenig anfangen. Eure erstellten Monster könnt Ihr durch diese 64 DD-Diskette in ein virtuelles Freigehege setzen und in der Ego-Perspektive stets begutachten bzw. Fotos von ihren Entwicklungsphasen schießen, die allesamt in einem digitalen Fotoalbum eingeklebt werden. Tja, der japanische Geschmack ist halt doch etwas anders….”

Anders als die Fun Generation, die Pocket Monsters nur ein paar Sätze in der Einleitung des Messe-Berichtes widmete und sich auf Zelda und Co. konzentrierte, spendierte die Total! ihnen eine Doppelseite. Das Magazin stellte Pokémon schon in seinem ganzen Facettenreichtum dar, der weit über den eines einfachen Videospiels hinausgeht.

Vom Merchandising wie Bettwäsche und Pokémon-Shampoos über ein Anime bis hin zur Pokémon Stamp Ralley: Was dem deutschen Spieler beim Lesen der Total! noch absurd vorgekommen sein muss, bot einen Vorgeschmack auf das, was später tatsächlich auch auf Europa zurollte.

Nicht zuletzt die Pokémon Stamp Rallye (einer Art analoges Pokémon Go) mit einer halben Million Teilnehmer zeigte, dass Pokémon weit mehr als nur ein Videospiel.

Release von Pocket Monsters auch in Deutschland?

Trotz des großen Erfolge in Japan war es für die Redaktion der Total! (01/98) ungewiss, ob es Pokémon auch bis Europa schafft, “da die Führungsetage von Nintendo of Europe sich nicht gerade durch Spontaneität und Innovationsfreude auszeichnet.” Ende 1998 sei aber der Einstieg in den amerikanischen Markt geplant, bei dem die Total! von einem Gelingen ausging.

Generell gute Erfolgssaussichten für Deutschland, aber “natürlich” müssten typisch japanische Elemente angepasst werden (Interview in der Fun Generation 01/1998)

Im Gegensatz dazu verkündete die N-Zone im gleichen Monat: “Übrigens, Pocket Monster für den Game Boy wird nun auch in Deutschland erscheinen.” Allerdings weder mit konkretem Datum noch mit einer Quellenangabe versehen.

In der März-Ausgabe 1998 schrieb die Total!, dass eine Veröffentlichung des GB-Spiels zu Weihnachten des gleichen Jahres wahrscheinlich sei.

Die Zukunft des Videospiels (Man!ac 02/1998) – auch außerhalb Japans? Dieser Beitrag wurde sogar auf der Titelseite der Ausgabe angeteasert. Möglicherweise die erste Nennung der Pokémon auf einer Titelseite eines deutschen Magazins.

Frühling 98 bis Sommer 99: Nur noch sporadische Meldungen nach der ersten Welle

Doch die erste Welle der deutschen Berichterstattung ebbte schnell ab. Für lange Zeit drangen nur noch einzelne Informationen über die Redaktionen nach Deutschland durch. Immerhin fand noch die Meldung über die Epilepsie-Anfälle einiger japanischer Kinder bei einer Folge des Pokémon-Anime Eingang in die N-Zone vom Februar 1998 (nicht ohne auf den resultierenden kurzzeitigen Absturz der Nintendo-Aktie hinzuweisen).

In der Juni-Ausgabe 1998 schrieb die Total!, dass an einer deutschen Lokalisierung des RPG gearbeitet würde. Erscheinungsdatum: wohl spätestens Weihnachten. Insgesamt zwei Seiten Bericht war Pokémon der Redaktion dieser Ausgabe wert. Weiterhin berichtete das Blatt, dass ein weiteres Pokémon-Spiel doch auf Modul und nicht für das N64DD erscheinen würde. “Wenn Pokemon Stadium nicht bald in Japan erscheint, wird das N64 dort nie zu einem echten Gegner für die PlayStation, denn ohne Pokemon für den Game Boy ginge es Nintendo in ihrem Ursprungsland nicht mehr so gut.”

Das N64DD hätte längst veröffentlicht sein sollen, wurde aber erneut verschoben. So kam Pocket Monsters Stadium auf einem normalen N64-Modul heraus.

Im Laufe der Zeit noch folgende Artikel über Pokémon lassen sich meist in eine der drei Kategorien einordnen: Import-Test, Erfolgsmeldungen oder Neuigkeit über ein Pokémon-Gimmick. Zu Letzterem zählt zum Beispiel das Pikachu-Pedometer oder der in Japan erschienende GB-Printer im Pikachu-Design. Dieser kam zeitgleich mit Pokémon Gelb in Nippon heraus.

Kein gutes Gameplay, banale Handlung und einseitige Kämpfe, aber dennoch mit Suchtpotenzial.

Im Herbst 1998 sickerte der geplante Deutschland-Start durch: Ende 1999. Die April-Ausgabe 1999 der Man!ac tat kund, dass die Pocket Monster auch in den USA ungeheuren Erfolg haben. Dort war das Spiel bereits seit September 1998 erhältlich. In Deutschland war zu dieser Zeit etwa Segas kommende 128-Bit-Konsole, die Dreamcast, wesentlich stärker Gegenstand der Berichterstattung. Des Weiteren dominierten natürlich Neuerscheinungen für das N64 und die PlayStation.

Man!ac 04/1999

Ein Sturm zieht auf: Pokémon vor und kurz nach Release im Herbst 1999

Mit dem sich nähernden Release zog die Dichte wie Breite der Berichterstattung wieder an. Vor allem bei einem herrschte Einigigkeit: Auch die hiesigen Gefilde werden (zu Recht) nicht von der grassiereden Pokémon-Sucht verschont bleiben. Nicht nur die kleinen User werden ihren Spaß daran haben, sondern auch die größeren, die keinen Wert auf gehobene Kost á la Final Fantasy legen. (Mega Fun, 09/1999).

Pokemon N-Zone alte videospielzeitschrift 1999
Bereits in der achten Ausgabe des Jahres 1999 stimmte die N-Zone auf das Bevorstehende ein – “Kein Entrinnen”

Wenig überraschend fielen die Test-Wertungen für Pokémon Rot und Blau ausgesprochen positiv aus. Die Fun Generation vergab die Höchstwertung (10/10), garniert mit den Worten: “Pokémon ist ein zeitloser Meilenstein.” Angesichts des bis heute anhaltenden Erfolges eine nahezu prophetische Zuschreibung.

Wertungen der Mega Fun (88%), der N-Zone und der Fun Generation.

Pokémon war gekommen um zu bleiben. Nintendo schaffte es, die Aufmerksamkeit um seinen neuen Goldesel über Jahre aufrechtzuerhalten. Genau wie im Rest der Welt avancierte Pokémon auch in Europa zum System Seller für den GameBoy. Das spiegelte sich in den einzelnen Blättern unterschiedlich wieder. Besonders gern griff etwa die N-Zone auf Pokémon zurück: Nach dem Erscheinen der Reihe sollte es bis ins Jahr 2002 dauern, bis erstmals eine Titelseite wieder ohne Pokémon-Referenz auskommen sollte.

Vom Strohfeuer über Sparflamme zum Feuersturm

Nach der flächendeckenden ersten großen Berichterstattung in Deutschland im Zuge der Nintendo Space World 1997, flaute die Anzahl der Berichte schnell ab. Selbst nach dem Release und dem Beginn des Hypes in den USA versetzte es die hiesige Medienlandschaft herzlich wenig in Aufruhr. Zu weit weg war das Phänomen Pokémon noch, die Berichte liefen meist auf Sparflamme. Erst als die europäische Veröffentlichung näher rückte, nahmen die Artikelanzahl und -größe wieder zu. Von der jahrelangen Euphorie in Japan und dann den USA waren die deutschen Spieler nahezu abgeschottet.

Vergleicht man den ersten Hype um die Taschenmonster mit dem 2016 grassierenden zu Pokémon Go, so fällt ins Auge, wie sehr sich die Medien in der Zeit gewandelt haben. Seinerzeit konnte Nintendo den außerjapanischen Release von Rot und Blau in Ruhe erst in den USA planen; ohne, dass wir Europäer groß davon mitbekommen hätten. Ein Jahr später waren wir dann an der Reihe. Alles lief in nationalen bzw. kontinentalen Bahnen nacheinander geordnet ab.

Genau wie das erste Pokémon RPG in Japan 1996 war Pokémon Go 2016 ein Überraschungserfolg. Beide verbreiteten sich wie ein Lauffeuer über Mundpropaganda. Doch dank sozialer Medien konnte Go nationale Grenzen überwinden und schlug in Windeseile weltweit ein. Zuerst erschien es am 06. Juli in Nordamerika, eine Woche darauf in Deutschland. Überall dort waren die Leute auf den Straßen unterwegs. Bilder von belagerten Brücken gingen ebenso viral wie die von in Pfannen hüpfenden Karpadoren. Das blieb auch in Japan nicht ungesehen. In sozialen Netzwerken beschwerten sich japanische User über eine ausbleibende Veröffentlichung in ihrem Land. Ausgerechnet das Geburtsland der Pokémon vernachlässigt! Frustration und Ungeduld machte sich unter japanischen Fans breit. Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit wurde Pokémon Go nach Fernost gebracht – stolze 16 Tage nach der Ersteröffentlichung in den USA.

Europäer hatten damals die Pokémon-Spiele für den GameBoy erst dreieinhalb Jahre nach dem japanischen Release bekommen. Und das vielfach ohne vorher etwas über die Pocket Monsters gewusst zu haben.

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