#durchgeblättert (2): Als Pokémon Snap (N64) in DE gecancelt wurde – und es Protest-Postkarten hagelte
Die Menschen des Jahres 2000 hatten viele Sorgen. Zum Jahreswechsel fürchteten sie noch den Ausfall sämtlicher Computersysteme. Im März sahen Anleger im Zuge der platzenden Dotcom-Blase ihre Felle davon schwimmen. Zeitgleich ereilte hierzulande die jüngere Generation eine neue Hiobsbotschaft: Nintendo strich Pokémon Snap von der Release-Liste. Mussten sie auf die Foto-Safari um Pikachu, Glumanda und Co. gänzlich verzichten? Doch ein Silberstreif am Horizont war zu erkennen – in Form einer Postkarte.
Und damit herzlich willkommen zum zweiten Teil von #durchgeblättert, in dem wir wieder durch alte Videospielmagazine blättern. Das Thema heute: Eine von der Zeitschrift big.N initiierte und an Nintendo adressierte Postkartenaktion, die den deutschen Release von Pokémon Snap sichern sollte. Wie wir wissen, konnten auch europäische Pokémon-Fans ihre Lieblinge später auf dem N64 ablichten. Waren die Postkartenproteste der tatsächliche Heilsbringer oder nicht mehr als ein schnöder Marketing-Gag einer Redaktion und Nintendo hatte ganz andere Beweggründe?
Pokémon Snap kommt – doch nicht.
Im Herbst 1999 erschienen die erste Pokémon-Abenteuer in Europa, ganze dreieinhalb Jahre nach japanischem Release (wie das Phänomen Pokémon in diesem Zeitraum in Europa wahrgenommen wurde, lest ihr im ersten Teil von #durchgeblättert).
Die Verzögerung hatte zur Folge, dass in Japan bereits seit langer Zeit Titel der Reihe erhältlich waren, die in Europa noch nicht einmal angekündigt waren. Mitten im Hype weckten Import-Tests von Spielen Sehnsüchte nach der wesentlich umfangreicheren Spiele-Bibliothek der Pokémon in Fernost. Es zeichnete sich ab, dass das über Sprachsteuerung zu spielende Pikachu Genki Dechu hierzulande nicht erscheinen würde. Immerhin stand Snap für September 2000 im Release-Kalender. Doch dunkle Wolken zogen auf.
Mir nix, dir nix, strich Nintendo das Spiel überraschend. Gründe nannte der Videospielhersteller nicht. Keine Foto-Safari für deutsche Fans! Die Info finden wir sowohl in der big.N als auch in der Total!. Japan habe vielleicht entschieden, munkelte die Total!. In Deutschland könne anders als in Japan und den USA nicht die Druckerfunktion genutzt werden, spekulierte die big.N. Das Ganze spielte sich im Februar 2000 ab.
Die Macht des Einzelnen: Ein Leser bringt den Protest ins Rollen
Empört über den ausbleibenden Snap-Releases in Deutschland, wandte sich Anfang März 2000 ein junger Leser an die Redaktion der big.N: „Warum kommt der in Japan und den USA riesige Hit nicht in Germany heraus, obwohl auch hierzulande die Pokémania rollt? Hiermit rufe ich alle Pokémon-Fans auf, an Nintendo zu schreiben, dass sie Pokémon Snap in Deutschland veröffentlichen sollen.“
Prompt erschien in der Big.N. (Ausgabe 05/2000) eine Postkarte “Wir wollen Pokémon Snap!“ zum Ausschneiden. Die Redaktion versprach, alle eingesendeten Protestnoten an Nintendo zu überreichen. So sollte Nintendo dazu bewogen werden, doch noch das Spiel auf die hiesigen N64-Konsolen zu bringen.
Die Zeitschrift hielt Wort. Auf der im Mai stattfindenden E3, so berichtet das Magazin, überreichte die Redaktion eine ausgefüllte Postkarte stellvertretend für alle hunderte Einsender/innen. Siehe da: Nintendo kündigte an, das N64-Spiel nun doch zu bringen. „Nicht zuletzt dem großen Engagement eurer Leser ist es zu verdanken, dass Pokémon Snap nun doch in Deutschland erscheint,“ gab der Nintendo-Verantwortliche Michael Friesl der big.N zu Protokoll. Ehrliches Eingeständnis oder reine Höflichkeit?
Brachten die Proteste nun Pokémon Snap nach Deutschland?
An sich ja eine nette Geschichte. Die Proteste von unten beeindrucken den Videospielgiganten schwer und bewegen ihn, seine Pläne über den Haufen zu werfen und im Sinne der Protestierenden zu entscheiden. Generell wirft das Hick-Hack um die Veröffentlichung Fragen auf. Gab das Engagement der Leserinnen und Leser der big.N. wirklich den Ausschlag? Warum entschied Nintendo, Pokémon Snap in Europa zu canceln, nur um ein paar Wochen später die Rolle rückwärts zu machen?
Möglich wäre, dass Nintendo selbst kalte Füße bekommen hat. Vielleicht, so dachte man sich, würde das innovative Spielprinzip doch nicht so gut in Deutschland ankommen. Ob da ein paar hundert Briefe für ein Umdenken gesorgt haben, sei dahin gestellt. Zumal dagegen auch die ordentlichen Verkäufe in Nordamerika sprechen.
Rechnen wir ein bisschen. Im September 2000 kam Pokémon Snap letztlich in Europa auf den Markt. Alleine die Herstellungszeit der N64-Module – einer der Nachteile des Nintendo 64 gegenüber der diskbasierten PS1 – betrug rund drei Monate. Also muss die Produktion der ersten Fuhre für den Release allerspätestens im Juni in Auftrag gegeben worden sein. Mitte Mai verkündete Nintendo die Doch-Noch-Veröffentlichung von Snap in Deutschland. Alles reichlich knapp und passt wenig zu der präzisen und umsichtigen Planung Nintendos, den Poké-Hype hierzulande zu schüren. Selbst im Februar müsste die Umprogrammierung auf die PAL-Norm schon weitestgehend abgeschlossen sein müssen.
Sollte es hier tatsächlich, wie man in der Redaktionsstube der Total! mutmaßte, eine Einmischung aus Japan gegeben haben, könnte ich mir das nur mit mangelnden Produktionskapazitäten erklären. Europa stand bei Nintendo am unteren Ende der Nahrungskette. Vielleicht gab es vorübergehend befürchtete Engpässe bei der aufwendigen Modulherstellung, sodass die wichtigeren Märkte Japan und USA im Hauptquartier priorisieren wurden.
Am ehesten könnte ich mir hier noch einen Bluff Nintendos vorstellen. Der scheinbare Rückzieher von Snap im Februar hätte einen hauseigenen Konkurrenten des im April erscheinenden Pokémon Stadium vorübergehend aus dem Spiel genommen. Keine Zwickmühle für die junge Zielgruppe, für welches teure N64-Spiel das Taschengeld ausgegeben werden soll. Voller Marketing-Fokus auf Stadium, später dann auf Snap. Reine Spekulation. Wer mehr weiß und Licht ins Dunkle bringen kann oder einfach gerne spekuliert, kann gerne kommentieren. 🙂
Ein Magazin feiert sich
Zumindest für die Zeitschrift big.N. war die Sache klar: Wir haben – im Verbund mit den eifrigen Fans – Pokémon Snap nach Deutschland geholt! Als das Spiel zum Verkaufsstart im September 2000 in der big.N vorgestellt wurde, ließ es sich die Zeitschrift nicht nehmen, noch einmal großzügig auf die Aktion hinzuweisen. Auf die tausenden eingesendeten Postkarten. Die verdutzten Gesichter von Nintendos Managern, als die Journalisten ihnen auf der E3 die tausenden Karten überreichten…Moment! War da im Mai nicht noch von hunderten und von stellvertretend einer ausgehändigten Postkarte die Rede? Naja, wir wollen ja mal nicht päpstlicher sein als die beiden Päpste.
Ob die Proteste wirklich etwas bewirkt haben? Ich persönlich möchte ein großes Fragezeichen dahinter setzen. Aber es zeugt von den lebhaften Communitys im noch weitestgehend analogen Zeitalter und ist mindestens eine nette Anekdote zu einem fantastischen Videospiel. Demnächst erscheint nach zwei Jahrzehnten Wartezeit endlich der Nachfolger von Snap auf der Switch. Hier stießen die Rufe der Fans nach einem zweiten Teil lange auf taube Ohren – vielleicht fehlten auch einfach die Postkarten. 😉